Postkoloniales Erinnern als Herausforderung

© Francisco Vidal

Postkoloniales Erinnern als Herausforderung

Die Vermächtnisse des Kolonialen in der Stadt

Wenn Entinnern und Erinnern aufeinandertreffen, entstehen Risse, Widersprüche und Konflikte, die uns bewusst machen, dass wir nicht die gleiche Geschichte erlebt haben und diese nicht gemeinsam erinnern. Im postkolonialen Europa treten die Risse durch die kolonialen Vermächtnisse immer deutlicher hervor, da die Forderung nach Gleichberechtigung eine neue postkoloniale Dimension erreicht hat, die die Geschichte Europas und ihre Monumente vom Sockel stößt.

Noa K. Ha
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Aus dem Kanon geworfen

Im Zuge der Black-Lives-Matter -Proteste in Europa wurden Denkmäler im öffentlichen Raum vom Sockel gestoßen und ins Wasser geworfen. Schnell verteilten sich die Bilder von den gestürzten und beschmierten Denkmälern in den sozialen Medien und in den Nachrichten. Was war passiert? Wie konnte es sein, dass Monumente im öffentlichen Raum – Denkmäler, insbesondere von weißen Männern, die mit der Geschichte des Kolonialismus und der Versklavung verbunden waren – ihrer ‚normalen‘ Anwesenheit beraubt und in metaphorischem Sinne aus dem Kanon geworfen wurden.

Ein Unbehagen ist in den europäischen Städten spürbar und folgt der Frage nach den ‚Vermächtnissen des Kolonialismus‘, weil der Zusammenhang zwischen der ‚Normalität von Rassismus und Kolonialismus‘ im Alltagswissen und der nicht aufgearbeiteten Gewaltgeschichte des europäischen Kolonialismus sich immer deutlicher zeigt. In Städten, die von segregierten Stadtvierteln und ungleichen Zugängen zu Bildung, Gesundheit, Arbeit und Wohnen strukturiert werden, formuliert sich diese Ungleichheit nicht nur entlang der Frage von Armut und Reichtum, sondern auch entlang von Geschlecht, Sexualität, Behinderung, Migration und Ethnizität. Daher will ich an dieser Stelle die Erbschaften des Kolonialismus als Vermächtnisse des Kolonialen adressieren, weil sie nicht nur in der Vergangenheit liegen, sondern bis heute die Epistemologien und unsere soziale Realität in der Vergangenheit, der Gegenwart und in der Zukunft beeinflussen.

Das Äußere der Welt im Innern Europas

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts schien die formelle Entkolonialisierung weltweit fast abgeschlossen zu sein. Dennoch zeugen die fortbestehenden Abhängigkeiten des Globalen Südens vom Globalen Norden, die zähe Dauerhaftigkeit von Rassismus in westlichen Gesellschaften und das anhaltende Schweigen der ehemaligen Kolonisatoren zu ihren Verbrechen vom unabgeschlossenen Prozess der Dekolonisation. Rassismus besteht in einer globalen Perspektive fort und artikuliert sich als eine koloniale Erfindung, die Menschen markiert, differenziert und hierarchisiert, in den verschiedensten nationalen Kontexten sehr spezifisch und relational. Aus der Perspektive Europas mag man(n) außereuropäische Gebiete kolonisiert und diese auch gewaltvoll ›erobert‹ haben – aber das fand außerhalb europäischer Grenzen statt. Daher zeitigen sich die Folgen des Kolonialismus – z. B. als Rassismus – außerhalb Europas, aber nicht auf dem alten Kontinent. Die Imagination des eigenen Europäischen Selbst als aufgeklärter, moderner und der Gleichberechtigung verpflichteter Kontinent scheint ungebrochen und bar jeder Erinnerung oder Kenntnisnahme der kolonialen Verbrechen – wie der Versklavung von vielen Millionen Menschen und anderen genozidalen Verbrechen. Dem steht gegenüber, dass die Auswirkungen der kolonialen Gewalt auf die metropolitanen Gesellschaften in Europa kaum benannt werden. So erfährt eine kolonialaffirmierende Geschichtserzählung in den europäischen Städten seit Ende der 1990er Jahre eine Revitalisierung, wie sie in Berlin an der Planung und Auseinandersetzung um das „Humboldtforum“ gesehen werden kann, wie in Hamburg an den Namensnennungen in der HafenCity deutlich wird, wovon in Lissabon der Vasco-da-Gama Turm (erbaut 1998) auf dem Expo-Gelände zeugt – und es ließen sich noch weitere Beispiele in anderen Städten Europas finden.

Die Alltagspraxis rassifizierter und migrantischer Communitys zeugt von der Herausforderung, sich sowohl den Strategien der Immobilisierung auf den Wohnungs- und Arbeitsmärkten als auch in öffentlichen Räumen durch racial profiling, Residenzpflicht bzw. Wohnsitzauflage (insbesondere für geflüchtete Menschen) und Zuzugsbegrenzungen in Nachbarschaften zu widersetzen und selbstbestimmte Lebenspraktiken zu entfalten. Die ungleichen Verhältnisse in Europa werden eher in den Bezügen von Migration und (nationalstaatlicher) Integration analysiert, anstatt einer rassismus- und kolonialismuskritischen Analyse unterzogen, die die Kontinuitäten und Bezüge sowohl geografisch zwischen den Kolonien und Metropolen als auch historisch zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus herausarbeitet.

Postkoloniales Erinnerungspraxis als Herausforderung

Daher ist der städtische Raum im postkolonialen Europa nicht nur der Wohnraum metropolitaner Gesellschaften – einer Gesellschaft, die zwischen sich und Anderen unterscheidet – sondern auch der deutende Repräsentations- und Erinnerungsraum europäischer Geschichte. Sei es im öffentlichen Raum, in nationalen und lokalen Museen, in den botanischen und zoologischen Gärten oder in den Universitäten  – in all diesen Räumen begegnen wir den kolonialen Vermächtnissen in den Wissensbeständen auch in den sozialen Zugängen zu diesen Räumen. Repräsentations-, Erinnerungs- und Wohnraum sind mit kolonialen Vermächtnissen verwoben, die aktiv die koloniale Gewalt entinnern, um sie als kolonial-nostalgische Erfolgsgeschichte zu affirmieren. Eine postkoloniale Erinnerungspraxis steht vor der Herausforderung nicht nur Unsichtbares sichtbar zu machen, Vergrabenes aus den Archiven und den Erinnerungen zugänglich zu machen, sondern auch in diese kolonialen Machtverhältnisse eingebunden und verwoben zu sein. 

Daher ist eine postkoloniale Erinnerungspraxis eine beständige Reflexion der Positionalitäten, der Ungleichheit, der geteilten Narrative und der schier unüberbrückbar scheinenden Vertiefungen durch die kolonialen Vermächtnisse der Menschen zueinander. Und dennoch ist es nötig die Analyse und Beschreibung der kolonialen Verhältnisse im städtischen Alltag ins Zentrum zu rücken und die widerständigen Alltagspraktiken diasporischer Subjekte in den Vordergrund zu stellen, um Ansätze der Dekolonisierung im postkolonialen Europa zu entwickeln.

März 2021