Anke Schwarzer ist Jahrgang 1970. Die Diplom-Soziologin und Redakteurin hat u.a. an der Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert und eine Journalistenschule in Berlin besucht. Seit über 20 Jahren arbeitet sie in Hamburg als Journalistin. Außerdem ist sie in der politisch-historischen Erwachsenenbildung sowie als Lehrbeauftragte tätig. 2016 bis 2018 hat sie als Wissenschaftliche Referentin für das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin und für die Europäische Grundrechteagentur in Wien gearbeitet. Seit April 2019 ist sie Mitglied im Beirat zur Dekolonisierung Hamburgs in der Behörde für Kultur und Medien. 2021 erscheint ihr Beitrag [De]colonial memory practices in Germany’s public urban space bei Palgrave Macmillan in dem Band der beiden Herausgeberinnen Ulrike Capdepón und Sarah Dornhof Contested Memory in Urban Space. Materiality, Traces and Monuments in Global Contexts.
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Das offizielle Hamburg ist stolz auf den Tierpark Hagenbeck. Doch es gibt auch Hamburger*innen, die den Tierpark lieber nicht besuchen möchten. Eine Kampagne fordert das Familienunternehmen zur Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte auf. Grund sind die Menschenzoos, die Hagenbeck zwischen 1875 und 1932 organisiert hatte.
Hamburg ehrt den Gründer des Tierparks Hagenbeck mit einer nach Carl Hagenbeck benannten Allee und einer Straße, preist den Zoo als ein „Hamburger Highlight“ an und verabreicht Finanzspritzen, um die denkmalgeschützte Anlage zu erhalten. Doch es gibt auch Hamburger*innen, die den Tierpark lieber nicht besuchen möchten. Und es gibt junge Leute, die im Sommer 2020 unter dem Hashtag #notmyhero eine Kampagne ins Leben gerufen haben: Sie stören sich an dem Denkmal des Zoogründers. Die Online-Petition haben mittweile fast 10.000 Menschen unterschrieben [1].
Sie fordern das Unternehmen auf, sich mit der Kolonialgeschichte
der Familie Hagenbeck auseinanderzusetzen. Der Grund: Hagenbeck hat nicht nur
Mandrills, Mähnenspringer und Mandschurenkraniche ausgestellt, sondern auch
Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt. Zwischen 1875 und 1932
organisierte Hagenbeck rund 70 Gruppen, die an zahlreichen Schauen in Hamburg
sowie in anderen europäischen Städten teilnahmen [2].
Carl Hagenbeck wird 1844 geboren und wächst auf St. Pauli auf. Nachdem sein Vater, ein Fischhändler, sechs Seehunde gegen Eintritt präsentiert und später verkauft hat, steigt er in den Tierhandel ein. Es war der Beginn eines wirtschaftlich erfolgreichen und vielseitigen Familienunternehmens, das bis heute besteht. In der Handelsmenagerie am Spielbudenplatz 19 sind Papageien, Opossums und Äffchen zu sehen.
Im Frühjahr 1874 verlegt Carl Hagenbeck sein Geschäft an den Neuen Pferdemarkt 13 und eröffnet dort Carl Hagenbecks Thierpark. In den 6.000 Quadratmeter großen Hinterhof inmitten von Wohnblöcken strömen die Besucher in Massen. Es gibt dort nicht nur Giraffen anzusehen, sondern bald auch Menschen. 1875 begleitet eine Sámi-Gruppe mit vier Erwachsenen und zwei Kindern aus Skandinavien einen großen Rentiertransport. Ein Jahr später kommen Männer aus dem heutigen Sudan nach Hamburg. Über Ostern 1878 schauen sich laut zeitgenössischen Zeitungsberichten 44.000 Menschen an, wie eine kleine Gruppe Inuit aus dem grönländischen Jacobshaven Essen zubereitet, das Baby schaukelt und mit dem Kajak umgeht. Es folgen Familien und Gruppen aus Chile, Australien, Indien, Kamerun, Russland, USA, Samoa, Äthiopien und den heutigen Ländern Sri Lanka, Birma und Somalia. Die Menschen sollen nicht als Individuen, sondern als Prototypen ihres „Volkes“ auftreten – möglichst zusammen mit „ihren“ Haustieren. Diese Art der Zusammenstellung bezeichnete Hagenbeck als anthropologische-zoologische Ausstellung [3]. Die Inszenierungen nahmen im Laufe der Jahrzehnte zu und folgten häufig einem festen Programm mit Tänzen, Gesang, Vorführungen mit dem Pferd, dem Kajak oder mit Speeren. 1907 eröffnete Hagenbeck den ersten Zoo mit nachgebildeten Felspanoramen und Tiergehegen ohne Gitter. Die „Völkerschauen“ setzte der clevere Geschäftsmann fort [4].
Ein gutes Jahr bevor der Startschuss für seinen neuen
Tierpark fiel, orderte die kaiserliche Kolonialarmee 2.000 Dromedare für den
Einsatz in Deutsch-Südwestafrika. Ein „Riesenauftrag“, wie Hagenbeck selbst
sagte. Laut seinen Ausführungen zögerte er keine Sekunde, sich dieses Geschäft
entgehen zu lassen – und sich damit am Krieg gegen die Ovaherero und Nama zu
beteiligen. Dass dort ein Völkermord im Gange war, war auch in Hamburg kein
Geheimnis geblieben. Postkarten, Berichte und Befehle zeugten von Vertreibung,
Enteignung, Zwangsarbeit und Konzentrationslagern. Stolz berichtet Carl
Hagenbeck, dass er mit fünf Dampfschiffen innerhalb von 192 Tagen die
gewünschten Tiere samt Kameltreibern von Port Said und Berbera in den
namibischen Häfen Swakopmund und Lüderitz abgeliefert habe. Von Hamburg aus
schickte er ausreichend Futter und Sattelzeug. Bei der Dromedarbeschaffung
behilflich war ihm übrigens sein „alter Freund Hersy Egga“ aus Somalia [5]. Hagenbeck kannte ihn aus einer seiner „Völkerschauen“.
Genitalienabbildungen und Schädelvermessungen
Das Hagenbecksche Firmengeflecht mit Geschwistern, Kindern, dem Schwager Johann Umlauff sowie zahlreichen Agenten verkaufte nicht nur Ameisenbären und Elefanten an Zoos in aller Welt. Es ging nicht nur auf Tierfang, sondern handelte auch mit sogenannten „Ethnographica“ sowie mit Postkarten und menschlichen Schädeln. Hagenbeck hielt Vorlesungen im Hamburger Kolonialinstitut und arbeitete zudem eng mit dem Arzt und Anthropologen Rudolf Virchow zusammen. Dieser war sehr erpicht darauf, die Frauen, Männer und Kinder der „Völkerschauen“ zu untersuchen – mit und ohne deren Einwilligung. Nasenindexe, Ohrhöhen und Gesichtswinkel wurden vermessen, Abbildungen von Körperteilen erstellt [6]. Nicht alle der an Masern, Pocken oder Geschlechtskrankheiten Verstorbenen wurden würdig begraben. Gehirne oder tätowierte Hautteile konservierte man in den Sammlungen europäischer Städte.
„Carl Hagenbeck und seine Menschenzoos haben sehr maßgeblich zur Erschaffung und Verfestigung rassistischer Haltungen beigetragen – die noch heute bestehen“ heißt es in der Hamburger Online-Petition [7]. Sie ruft dazu auf, die Verherrlichung und Glorifizierung von historischen Figuren wie Carl Hagenbeck zu beenden. Darüber hinaus wirbt die Kampagne für ein neues Denkmal, das die Betroffenen und die Opfer der so genannten „Völkerschauen“ würdigen soll, etwa Abraham Ulrikab und seine Familie.
Rare Berichte in Briefen
Abraham Ulrikabs Briefe und Tagebucheinträge zählen zu den wenigen Dokumenten, in denen wir etwas über die eigene Sichtweise eines Menschen erfahren, der damals in einer „Völkerschau“ aufgetreten ist [8]. Der norwegische Agent Adrian Jakobsen hatte Abraham Ulrikab, seine Frau Ulrike und die beiden Kinder Sara und Maria in Labrador, dem heutigen Kanada, für einen Aufenthalt in Europa angeworben. Im Auftrag von Hagenbeck brachte er die Familie sowie weitere Inuit nach Hamburg. Er unterließ es, sie gegen Pocken zu impfen. Dies sollte später zum Tod der achtköpfigen Gruppe führen.
Die Luft rausche beständig vom Lärm der Gehenden und Fahrenden. „Es braust und dröhnt Tag und Nacht“, schreibt Abraham Ulrikab 1880 in sein Tagebuch [9]. Er klagt über Heimweh, die Kälte, die lauten Geräusche der Wagen und Dampfpfeifen, das harte Brot und die aufdringlichen Menschenmassen, die ohne Anstand die Unterkunft seiner Familie aufsuchten. Mit Holzstangen hätte man sie von den Fenstern abhalten müssen und er habe seine Peitsche nehmen müssen. „[Ich] machte mich fürchterlich“, schrieb der 30-jähirge Inuk [10]. Es plagte ihn sehr, dass er die Reise gegen den Rat der in seinem Heimatort Hebron lebenden Herrnhuter Missionare angetreten hatte.
Produktionsstätte weißer Überlegenheitsgefühle
Abraham Ulrikab lockte das versprochene Geld, denn er stand bei den Missionaren in der Kreide. Und er war neugierig auf das Leben in Europa und versprach sich von seinem Aufenthalt auch einen Besuch bei der Herrnhuter Mission. Die Motive der anderen Schauteilnehmenden waren unterschiedlicher Art – sofern sie überhaupt über ihren Auftrag und ihr Reiseziel unterrichtet waren [11]. Geld und Geschenke, die in Verträgen vereinbart worden waren, aber auch – bei ranghohen Schauteilnehmern wie Mambingo Eyum, genannt Prinz Samson Dido, Friedrich Mahahero oder Tupua Tamasese Lealof – das Interesse, diplomatische Beziehungen zu pflegen. Zugeworfenes Obst, Zudringlichkeiten, Misshandlungen und Gewalt: Die Vorstellungen waren entwürdigend und können insgesamt als eine Produktionsstätte weißer Überlegenheitsgefühle und kolonialrassistischer Blickregime beschrieben werden.
Der Hamburger Hans-Jürgen Massaquoi berichtet, wie er als Schwarzes Kind, wohl um 1930/31, den Zoo und eine „Völkerschau“ besuchte – und dort in ein Setting des
Othering
geriet: „Plötzlich geschah genau das, was ich vom ersten Moment an befürchtet hatte.“ Trotz seiner Versuche, sich zu verstecken, richtete ein Zoobesucher seinen dicken Zeigefinger auf den Jungen. „Guck mal!”, sagte er zu seiner Begleiterin. „Da ist ein Kind von denen.” Voller Scham und Verlegenheit angesichts des verletzten Zugehörigkeitsgefühls ging er mit seiner Mutter nach Hause. Am Abend hätten sie sich geschworen, nie wieder einen Fuß in Hagenbecks Tierpark zu setzen, schreibt Massaquoi [12].
Späte Echos
„Der Körper wird zum Exponat und zur Widerspiegelung exotischer Sehnsüchte oder zur Projektionsfläche negativer Fremdbilder der Zuschauer“, schreibt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Albert Gouaffo [13]. Gleichzeitig sollte nicht unterwähnt bleiben, dass die zu Schauobjekten degradierten Menschen Handlungsspielräume und Widerstandsmöglichkeiten hatten und diese auch nutzten, soweit es angesichts der Machtverhältnisse ging. Die Echos dieser kolonialen Shows hallen bis heute nach: Nachfahren recherchieren zu ihren Verwandten; menschliche Gebeine werden repatriiert [14]. Tausende klischeehafte Abbildungen kursieren im Internet. Noch bis Ende der 1950er Jahre hat der Tierpark Hagenbeck versucht, Menschenzoos in Stellingen zu präsentieren. Seine „Dschungelnächte“, das rassistische Figurenprogramm auf dem alten Eingangstor und das im Kolonialstil eingerichtete „Tierpark-Themenhotel Hagenbeck“ verklären die koloniale Zeit bis heute. Für manche Besucher*innen ist es erschreckend zu hören, dass hier Menschen ausgestellt und rassifiziert wurden.
Marie Nejar erzählt in ihrer Autobiographie, wie sie davon erfuhr: Sie kam 1930 auf die Welt und wuchs auf St Pauli auf. Auf dem Kiez habe sie nur wenige andere Schwarze gekannt. Eine davon sei „Tante Henny“ gewesen, eine rundliche und fröhliche Frau. Sie habe eines Tages erzählt, dass sie mit ihrem Mann Yuan und den Kindern im Tierpark Hagenbeck ausgestellt worden sei, schreibt Marie Nejar. „Das klang schrecklich. Oft war ich mit Oma in Stellingen gewesen, um uns die Tiere bei Hagenbeck anzuschauen, nie aber hatte ich Derartiges gesehen“, schreibt sie weiter. Aber sie konnte sich nun einen Reim auf eine ganz andere Sache machen: Erwachsene riefen ihr manchmal auf der Straße zu: „Ach, du bist aus Hagenbeck!“. Marie Nejar fühlte sich beleidigt, wusste aber nie, was sie darauf antworten sollte. Und sie fragte sich: „Verwechselten die mich wirklich mit einem Tier? Oder hatten sie früher die Völkerschauen gesehen?“ [15]
Die Öffnung des Archivs? Eine Entschuldigung oder Erklärung? Der Tierpark beteilige sich „aktiv an der Aufarbeitung dieses Themas“ heißt es auf Nachfrage. Man solle aber Verständnis dafür haben, dass Fragen „im Moment“ nicht beantwortet werden könnten. Dieser „Moment“ dauert schon sehr lange – um nicht zu sagen viel zu lange.
[2] Thode-Arora, Hilke (1989). Für fünfzig Pfennig um die Welt: die Hagenbeckschen Völkerschauen. Frankfurt am Main: Campus. S. 168-175
[3] Hagenbeck, Carl (1908): Von Tieren und Menschen. Erlebnisse u. Erfahrungen von Carl Hagenbeck. Berlin-Charlottenburg: Vita Deutsches Verlagshaus. S. 96
[4] Vgl. Flemming, Johannes (1914): Führer durch Carl Hagenbeck's Tierpark Stellingen. Carl Hagenbeck's Eigentum und Verlag: Hamburg. S. 42-43
[5] Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen. Erlebnisse u. Erfahrungen von Carl
Hagenbeck [Dos animais e das pessoas. Vivências e experiências de Carl Hagenbeck], Vita
Deutsches Verlagshaus, Berlin-Charlottenburg, 1908 (pág. 377-386)
[6] Vgl. Dreesbach, Anne (2005): Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. S. 280-305
[7] Brinckman, Johanna/change.org (5.7.2020): Abschaffung der Carl Hagenbeck Statue & Strasse und Denkmal für die betroffenen Menschen! https://www.change.org/p/gegen-rassismus-ich-fordere-die-abschaffung-der-carl-hagenbeck-statue-strasse-und-ein-denkmal-f%C3%BCr-die-betroffenen-menschen?redirect=false (abgerufen am 26.3.2021). Weitere Berichte sind, soweit bekannt, von Teilnehmenden an späteren „Völkerschauen“ um die Jahrhundertwende belegt, etwa vom Filmkomparsen, Schauspieler und späteren Regierungsdirektor im Bundesnachrichtendienst Theodor Wonja Michael sowie überlieferte Aussagen zum Aufenthalt im Deutschen Reich, etwa von Friedrich Mahahero aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika und Samson Dido aus Kamerun. Weitere Schilderungen gibt es von Nachfahren, etwa in Samoa, vgl. dazu Thode-Arora, Hilke (2014): From Samoa with Love?. Samoa-Völkerschauen im Deutschen Kaiserreich - eine Spurensuche. München: Hirmer Verlag.
[8] Lutz, Hartmut; Grollmuß, Kathrin; Ipellie, Alootook (2007): Abraham Ulrikab im Zoo. Tagebuch eines Inuk 1880/81. Wesel: vdl:Verlag
[9] Lutz, Hartmut; Grollmuß, Kathrin; Ipellie, Alootook (2007), S. 35
[10] Lutz, Hartmut; Grollmuß, Kathrin; Ipellie, Alootook (2007), S. 38
[11] Vgl. Eißenberger, Gabi (1996): Entführt, verspottet und gestorben - Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos. Frankfurt a.M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation.
[12] Massaquoi, Hans-Jürgen (1999): >>N., N., Schornsteinfeger!<< Meine Kindheit in Deutschland. Bern ; München ; Wien : Fretz und Wasmuth. S. 39-41
[13] Gouaffo, Albert (2012): Prinz Dido aus Kamerun im wilhelminischen Deutschland. In: Blanchard, Pascal; Bancel, Nicolas; Boëtsch, Gilles; et. al. (Hg.) (2012): MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit. Hamburg: Les Éditions du Crieur Public, Hamburg. S. 303