Anhand der Geschichte des Chilehauses lässt sich zum einen die Verbindung zwischen dem Symbol des Schiffes und der Geschichte der Versklavung erkennen, zum anderen lassen sich die Verflechtungen zwischen Reisefreiheit, aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden, und dem Extraktivismus – die systematische Extraktion von Umweltressourcen aus dem Globalen Süden für den Globalen Norden – rekonstruieren.
Gebaut von 1922 bis 1924 ist das Chilehaus das prominenteste Kontorhaus [1] der Speicherstadt. In der Architektur ist der Bauentwurf vom Österreicher Fritz Höger, der zahlreiche Denkmäler für Hamburg konzipierte [2], aufgrund seines expressionistischen Stils weltweit bekannt. Das Chilehaus befindet sich in der Altstadt von Hamburg zwischen dem Sprinkenhof Kontorhaus und dem privaten „Chokoversum“ Museum von der Firma und Bremer Reedereifamilie Hachez.
Anfang der 1920er Jahre ließ der Bauherr und Namensgeber, der Hamburgische Magnat [3] Henry Brarens Sloman, das Haus auf einem von der Stadt an ihn gespendeten Landstück von circa 5000 m² errichten. Zuvor lebten auf dem Gelände, das einen ganzen Häuserblock umfasst, Hafenarbeiter und deren Familien, die für den Bau nach Barmbek [4] umgesiedelt wurden. Es wird geschätzt, dass 20.000 Menschen ihren Wohnort verlassen mussten. [5] Das Großbauprojekt zeigt, dass die Stadt bereits Anfang des letzten Jahrhunderts das urbane Zentrum für den Kommerz gegenüber der Behausung von Arbeiter*innen und Bürger*innen priorisierte.
Vor fast einem Jahrhundert errichtet, sind die Dimensionen des Chilehauses mit jenen der Elbphilharmonie vergleichbar. Gebaut in Form eines Passagierschiffes war das Haus damals auch ein neues Wahrzeichen für Hamburg, welches aufgrund seiner monumentalen Dimensionen kontrovers diskutiert wurde.
Seit 1983 unter Denkmalschutz ist das Haus seit 2016 zusammen mit der Speicherstadt Bestandteil des UNESCO Weltkulturerbes. Somit wurde seine Bedeutung für global erklärt. Seine offizielle Beschreibung besagt, dass Sloman in Chile „drei Jahrzehnte lang tätig war“ und das Haus für den „Ausdruck des Aufbauwillens der Wirtschaft“ stünde. [6]
Gleichzeitig erzählt das Haus eine transkontinentale Geschichte, die nicht erwähnt wird: Es bildet einen kolonialen Erinnerungsort in der Stadt und dient als Denkmal für die Wege des Extraktivismus, die nach Hamburg führten. Das Chilehaus steht symbolisch für die deutsche koloniale Expansion jenseits der sogenannten Schutzgebiete.
Seit dem 15. Jahrhundert basierte die Ökonomie der lateinamerikanischen Länder auf der Ausbeutung menschlichen Lebens und von Umweltressourcen in Plantagen und Minen, deren Nutzung und Verschiffung im Lauf der Geschichte maßgeblich zum europäischen Wohlstand beigetragen hat. Aus dieser Ökonomie resultieren kolonialgeprägte urbane Landschaften, welche auch in der Hamburgischen Stadtplanung ersichtlich sind.
Das Motiv des Schiffes, das sich in Hamburg in der Architektur der Häuser und als Ornament auf den Fassaden immer wieder finden lässt, ist ein versteinertes Narrativ, welches Reedereifamilien und Plantagenbesitzer*innen als lokale Vorbilder darstellt. Als ein Denkmal dieses Narrativs ist das Chilehaus ein prominentes Symbol für die europäische Aufteilung der Erde.
Chilehaus - Ansichten, Hamburg, 2021. Fotos: Nicole Benewaah Gehle.
Chilehaus - Ansichten, Hamburg, 2021. Fotos: Nicole Benewaah Gehle.
Zur Kolonialgeschichte des Chilehauses
Die Bedeutung der Seemacht in Hamburg, welche mit der bürgerlich-urbanen Entwicklung einherging, schaffte die Voraussetzung für die deutsche Kolonialexpansion. Im Gegensatz zum spanischen und französischen Kolonialismus waren es im Fall des Deutschen Reiches und später Deutschlands häufig einzelne Unternehmer, die irreführend als Pioniere der sogenannten Entdeckungsreisen auftraten. Die Geschichte von Slomans Reichtum ist ein Beispiel für die private Besetzung von rohstoffreichen Gebieten, die ausschließlich Profit für europäische Länder erzielte. Der zügige Bau des privat finanzierten Chilehauses ist mit dem Handelsmonopol zu erklären, das Sloman mit dem aus dem heutigen Chile extrahierten Salpeter genoss.
Benutzt im 20. Jahrhundert für die Herstellung von Dünger und Schießpulver war der Salpeter, auch „weißes Gold“ genannt, ein für die Landwirtschaft und Waffenindustrie gleichermaßen wichtiges Material. Bevor Sloman die unterirdischen Ressourcen in der Atacamawüste erforschte und die natürlichen Quellen von Salpeter an sich riss, diente Guano dem gleichen Zweck.
Pelikan an der Fassade des Chilehauses, Hamburg. Foto: Tania Mancheno.
Auf den Fassaden des Chilehauses befindet sich die Steinfigur eines Pelikans. Anhand dieser Vogelfigur lässt sich die Geschichte des Guanos, also die Geschichte der Vogelexkremente erzählen, die von den Inseln der Pazifikküste des heutigen Chiles, Perus und Ecuadors, tonnenweise und mit rasanter Regelmäßigkeit nach Europa und Hamburg im 19. Jahrhundert verschifft wurden. Die Dimensionen und Schnelligkeit des Handels mit dem Abfallprodukt der Natur erschöpfte die Guanoreserven allerdings alsbald. Der natürliche Kreislauf wurde unterbrochen, sodass Erholungsphasen ausfielen und die europäischen Schiffe nicht mehr genügend Vogelexkremente zusammen bekamen. Sloman und seine Reedereifirma schlossen mit dem Handel von Salpeter demnach eine gierige Marktlücke eines Rohstoffes, der paradoxerweise gleichzeitig für die Ernährung und die Vernichtung von Menschen eingesetzt wurde.
Von Namen und deren kolonialer Herkunft
Sowohl in seiner Namensgebung als auch in seiner Gestalt verweist das Chilehaus auf den Kolonialhandel mit Salpeterminen in der Atacamawüste. Diese bildeten die Hauptquelle von Slomans Vermögen und begründeten einen wichtigen Anteil des Reichtums der Hansestadt, da sie zum Haupthafen des geraubten Natriumnitrats wurde.
So wie heute die UNESCO in ihrem fragmentarischen Text beschreibt, hatte Sloman damals nicht explizit intendiert, mit dem Bau des Hauses einen Erinnerungsort für Chile in Hamburg zu schaffen. Nicht weit weg vom Chilehaus in Richtung Speicherstadt, den Kanal entlang befindet sich das Slomanhaus, welches im Jahr 1910 gebaut und zur Bauzeit des Chilehauses von Höger erweitert wurde. Das Haus liegt in unmittelbarer Nähe zur Kornhausbrücke, die den alten Eingang in die Speicherstadt bildete und wo bis heute eine überdimensionale Skulptur von Kolumbus steht.
Die Atacamawüste, Ort von mondähnlichen, stillen Landschaften und traditionell vor allem aufgrund der dramatisch schwingenden Temperaturen unbewohntes Land, ist ein Gebiet im Norden Chiles, das von den spanischen Kolonisatoren vermieden wurde. Legenden erzählen [7], dass weiße Menschen von Ängsten berichteten, die sie aufgrund der nur in der Nacht und in bestimmten Jahreszeiten rotblühenden Blumen in der Wüste bekamen. Sie verglichen dieses Wunder mit einem Schlachtfeld, in dem die Seelen der von ihnen zahlreich getöteten Menschen umherwanderten. Sloman ignorierte diese Erzählungen und drang in die Erde symbolisch und wortwörtlich ein.
Ehemaliger Stausee für das Salpeter-Wasserkraftwerk Slomans um 1920, am Río Loa, Chile, 2005. Foto: Roberto Araya Barckhahn, gemeinfrei (Wikimedia Commons).
Das koloniale Wissen und die Ausbeutungsstrukturen setzte Sloman in seinen Minen in den Landkreisen Taltal und Toco mit Präzision ein. Um die Bildung von Gemeinschaft zwischen den versklavten Menschen zu unterbinden, erwarb er hauptsächlich männliche Arbeitskräfte [8] aus unterschiedlichen Regionen Chiles, Boliviens und Perus, aber auch aus China.
In seinen Minen, u. a. „Gute Hoffnung“ genannt, wurde ein System der Verschuldung geplant. Die Arbeiter waren dazu verpflichtet, die überteuerten Lebensmittel von Slomans Firma zu erwerben. Für den Transport des Salpeters bezahlte Sloman weder Steuern in Chile, am Hafen Tocopilla, noch in Hamburg. Die Marktderegulierung, welche 1900 in Hamburg entschieden wurde und das Vorgehen legitimierte, hieß Lex Sloman.
Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Deutschland das transatlantische Handelsmonopol des Salpeters an England. Zahlreiche Minenarbeiter wurden entlassen. Der aus Versklavung und ökologischer Ausbeutung erworbene Reichtum, der zusammen mit der Nachfrage bis zum Marktzusammenbruch im Jahr 1930 wuchs, hinterließ in Chile eine Wüste aus Beton und Stahl. [9]
Die gigantische Damminfrastruktur, die Sloman für die Wässerungssysteme seiner Minen mitten in der Wüste baute, existiert bis heute. Der chilenischen kolonialen Amnesie nach ist der Damm an dem Fluss Loa Tranque Sloman (dt. Slomans Damm) genannt.